Wenn das Weltbild gesprengt werden muss ...

Heute möchte ich dich zu einer kleinen Gedankenreise einladen:

 

Stell dir vor, du bist ganz normal in der Stadt unterwegs, auf dem Markt zum Beispiel. Wenn du nicht gerade eher an den Ständen bist, siehst du nicht besonders viel davon, sondern stattdessen die nicht sehr einladende Hinteransicht anderer Menschen. Sie bemerken dich nicht oder ziehen vielleicht nicht in Betracht, dass du auch etwas sehen möchtet. Also musst du dich durch die Menge kämpfen. Dabei folgen dir viele neugierige, aber auch mitleidige Blicke. Du siehst förmlich, wie es in den Köpfen rattert: ‚Was hat das Kind? Krass, dass es überhaupt hier ist.‘ Auch die Kinder haben weder Beatmung noch Liegerollstuhl schon einmal gesehen und fragen ihre Eltern, was das da ist. Die ziehen sie aber weiter oder antworten: „Das Baby schläft.“ Aha, mit offenen Augen … Ist aber natürlich eine einfachere Antwort als sich die eigene Unsicherheit einzugestehen.

Du rollst zugleich genervt und amüsiert weiter und irgendwann findet du sogar ein Geschäft ohne Stufen. Du schaust kurz herein und rollt rückwärts wieder raus, weil es drinnen so eng ist, dass es keine Wendemöglichkeit für dich gibt. Also weiter suchen … Beim nächsten Laden kommt die Verkäuferin sofort zu dir und bietet ihre Hilfe an. So ein Behindertenbonus ist schon praktisch, beruht aber auch auf Unsicherheit und eigentlich wolltest du doch nur in Ruhe schauen und dich kümmern. Auf dem Weg zur Kasse spricht eine fremde Frau dich bzw. leider eher deine Begleitung an, weil sie mal Menschen mit Behinderungen gepflegt hat: „Cool, dass ihr hier einkaufen seid!“ Ähm ja, das ist normal für dich … Für sie anscheinend nicht, also gibst du der Frau einen Crashkurs, wie krass normal dein Leben so ist. Etwas später machst du dich über unebene Pflastersteine langsam auf den Rückweg und wirst diesmal von einer neugierigen Omi aufgehalten: „Was hat denn die Kleene?“

 

Die „Kleene“ bin ich. Die Situationen, die ich dir eben in konzentrierter Form beschrieben habe, kenne ich alle aus eigener Erfahrung. Ähnliches erlebe ich immer wieder: Menschen nehmen mich als eine Person wahr, die seltsam auf sie wirkt und nicht in ihr Weltbild passt.

Sie reagieren einerseits oft mit Ignoranz, denn was man nicht kennt, nimmt man nicht ernst. Das ist offenbar leichter als sein vorgeformtes Weltbild neu anzupassen. Von außen sieht man nur meine Behinderung – eine bewegungsunfähige sabbernde Frau mit einer komischen Beatmungsmaske – und kann sich nicht vorstellen, dass ich noch mehr sein kann, wenn man mich lässt: Weder, dass ich alles verstehe und auf meine Weise antworten kann, noch, dass ich eine potenzielle Kundin bin, denn sonst würde man nach Möglichkeit von Anfang an auf Barrierefreiheit achten … Und die meisten glauben erst recht nicht, dass ich ein Leben wie sie habe – studiere, Gedichte schreibe oder ehrenamtlich zum Beispiel beim Gestalten von Homepages helfe oder Texte in Einfache Sprache übersetze.

Andererseits sind Menschen auch oft sehr neugierig und finden alles, was ich tue, sooo toll und besonders. Nur weil ich anders bin, heißt das aber nicht, dass alles bei mir inspirierend ist. Ich bin wegen meiner Behinderung nicht herausragender als andere. Alle Menschen sind doch einzigartig und zugleich normal wie alle anderen. Und deshalb habe ich auch manchmal keine Lust, einfach angesprochen zu werden und ständig sozusagen Aufklärerin in eigener Sache zu sein. Natürlich erkläre ich gerne Dinge aus meinem Leben, gerade Kindern – wobei diese noch mit am schnellsten ohne große Begründung akzeptieren, dass manche Menschen schlicht anders sind … Aber es kann durchaus nerven und unangenehm sein, dass die Hemmschwelle, Menschen mit Behinderungen anzuquatschen und teils Persönliches zu fragen, generell nicht sehr hoch ist.

Natürlich weiß ich, dass all diese nervigen unangemessenen Reaktionen auf der Unsicherheit von Menschen mir gegenüber beruht. Und das ist das Problem: Es gibt so viele Menschen mit Behinderungen, aber im Alltag der meisten tauchen sie so gut wie nie auf – zumindest nicht, ohne dass die Behinderung sofort im Vordergrund steht. Das liegt vor allem daran, dass sie durch strukturelle, räumliche, technische, digitale, visuelle, akustische, sprachliche und kognitive Barrieren ständig ausgegrenzt werden. Dadurch kennen viele Menschen solche grundlegend verschiedenen Lebensrealitäten nicht und haben keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollen. Das hilft allerdings auch nicht gerade dabei, Barrieren zu brechen und ein gutes Miteinander zu schaffen. Es ist ein Teufelskreis.

 

Doch im Gespräch miteinander kann dieser durchbrochen werden. Nur im Austausch kann ein gutes Miteinander entstehen und deshalb ist dieser so wichtig: von Erfahrungen erzählen, anderen zuhören, Fragen stellen und gemeinsam nachdenken. Das wünsche ich mir von uns allen, denn manchmal wird dabei die ein oder andere bisherige Vorstellung gesprengt und nur so entsteht Platz für Neues. Das ist nicht nur für Inklusion wichtig, sondern für absolut alle Lebensbereiche – egal ob Politik, Gesundheit, Bildung, Arbeit usw. … Austausch und Veränderung von alten Ideen sind überall existenziell. Vor allem, dass man dann auch nach den neuen Erkenntnissen handelt und nicht im alten Trott bleibt, weil man das schon immer so gemacht hat. Mit einem Gedicht dazu möchte ich schließen und dich zu diesem Wandel herzlich einladen:

 

Formsprenger

 

In Form gepresst sprenge ich Rahmen,

die mir den Platz, der mir zusteht, nahmen.

Durch Rennen gegen Wände reiße ich sie ein,

so setze ich für Veränderung den Grundstein.

 

Regeln und Strukturen können Energien stützen

und der Gesellschaft und mir nützen,

nur müssen sie sich wie in der Natur wandeln, sprengen lassen

von uns, die nicht in das vorgegebene System passen.

 

Die Natur macht es uns vor,

öffnet ständig für neue Wege das Tor.

Da stoßen Blüten durch die Schneedecke

und Löwenzahn sprießt trotzig in einer Straßenecke.

 

Von Rosalie Renner